Sammelnd wahrnehmen und wahrnehmend sammeln

Lebensfragen dieser Welt mit all ihren verschiedenen Ebenen und Inhalten spiegeln sich in den Arbeiten von Corinna Mund auf ebenso vielfältige Art und Weise. Ihrem gesamten künstlerischen Tun ist ein sehr poetischer und ästhetischer Umgang gemein; selbst auch dann, wenn die Inhalte gar nicht poetisch sind. Ästhetik bedeutet in der Übersetzung 'Aneignung von Wirklichkeit' – und diese Aneignung ist ein zentraler Punkt in den künstlerischen Handlungen von Corinna Mund.
Neben dem Papier als Basis verwendet sie Fundstücke jeglicher Art, kombiniert, schreibt, stickt, klebt, collagiert. Die Schrift als markantes Element ist nahezu omnipräsent; eigene Gedanken, aber auch Zitate oder schlicht und ergreifend Wortelemente aus der Werbung und aus Zeitungsartikeln oder gar Label sind zu finden.
Bildzitate aus der Kunstgeschichte werden mit aktuellen Details kombiniert, bisweilen auch konfrontiert. Der Name Leonardo da Vincis ist ebenso zu finden wie Teile von bekannten Skulpturen. In dieser Art der Kombination, respektive Konfrontation wird das Alte wieder aufgelegt, das Neue kontextualisiert, und insgesamt wird deutlich, wie eng – trotz großer zeitlicher Differenzen – diese Elemente doch miteinander verwoben sind.
Der Stil der Künstlerin variiert zwischen grafisch und malerisch, puristisch und aus der Fülle geschöpft. Neben den zweidimensionalen Arbeiten existieren beispielsweise auch in ihren Buchobjekten dreidimensionale Details. Zwischen konkret und abstrakt variiert die Palette: hier die konkrete zeichnerische Interpretation und dort der sich malerisch ausdrückende ganz freie Gestus.
Die Variationen zeigen sich dementsprechend zwischen einer federleicht scheinenden Zeichnung und einer vielschichtig und schwer collagierten Komposition. Und so bleiben manche Seiten in den vielfältigen Medien der Künstlerin fast leer, andere sind dicht gefüllt.
Inhaltlich verwendet sie viele verschiedene Symbole, entnommen sowohl dem religiösen als auch dem mythologischen Kontext. Immer wiederkehrend interpretiert sie das christliche Symbol überhaupt: das Kreuz. Es erscheint in fotografierter Version (Polaroids), in gezeichneter Interpretation oder als dreidimensionales Objekt im Kontext der Buchobjekte. Ist es einerseits das Leidenssymbol schlechthin, so markiert es andererseits eine Wegekreuzung; und es ist, entlehnt aus dem ursprünglichen Kontext, Symbol für den Tod und die Auferstehung gleichermaßen.
Aus dem Bereich der Mythologie sei eine Arbeit stellvertretend erwähnt. Ein Wandobjekt, eine 'ehemalige' Küchenrolle trägt die Namen von zentralen Göttern aus der griechischen Mythologie: Ganymed, Europa, Danae, Leda, Hera und Io. Fast mutet dieses Objekt wie ein Abreißkalender an ... aber so oft sie auch in Vergessenheit geraten, die Göttinnen und die Götter, es gibt immer wieder aktuelle Anlässe, sich ihrer zu erinnern und sie mit einzubeziehen.
Besonders Danae spielt im Werk Corinna Munds eine besondere Rolle. In der Arbeit mit dem Titel 'an danae - leck im Scharnier' begegnen wir dem Mythos, in dessen Kontext die Passage sehr wichtig ist, in der Zeus, da er sie liebt, in Gestalt des Goldregens in ihr Gefängnis eindringt. Von Rembrandt gibt es genau zu diesem Teil des Mythos ein Gemälde mit der eindrücklichen Darstellung des Goldregens.
Eine Serie zur 'Ilias' von Homer gibt Teile des Textes in unterschiedlich großen Buchstaben wieder. Durch den Eingriff der Künstlerin werden auf diese Weise Stellen deutlich, die für ihren künstlerischen Zusammenhang relevant sind. Diese Textstellen erhalten durch verschiedene Bilder einen unscharfen oder besser diffusen Hintergrund. Die Textauszüge machen neugierig, vielleicht auch auf weitere zu lesende Teile des wichtigen griechischen Opus, dessen Darstellung der olympischen Götter erheblich zur Entwicklung einer nationalen griechischen Religion beigetragen haben dürfte und das bis in die Gegenwart die europäische Kunst- und Geisteswissenschaft prägt. Die Kombination des 'alten' Textes mit den 'neuen' Bildern verweist auf die Beziehungen, die zwischen dem einerseits längst Vergangenen und dem Aktuellen im hier und heute bestehen.
In vielen Arbeiten geht es um den Körper, im Detail oder auch als Ganzes. Der Körper als Symbol für den Menschen, das Menschenbild und seine Rolle, und besonders die Rolle der Frau, aber auch das Bild der Frau in der Werbung läßt sich in den verschiedenen Schichtungen, die das Werk der Künstlerin ausmachen, finden. Beispielsweise sei die Arbeit genannt, die den Text 'Striptease auf dem Berg der Verklärung' mit einbezieht.
Schichtungen, die Technik der Collage, zeigen und verdecken, legen einerseits offen, andererseits verstecken sie aber auch. Hier und da verweisen Bruchstücke auf ein mögliches größeres Ganzes, aber es bleibt ein Geheimnis der Arbeit, ein Geheimnis der Künstlerin. Diskret ist der Ansatz von Corinna Mund, Themen anzusprechen. Latent spürbar, wird jedoch nicht angeklagt. Den Betrachtenden bleibt der eigene 'Spiel' - Raum für die Bilderfahrungen, für die Geschichten, bestehend aus Gesammeltem, Gefundenem und eigenen Strichen, Linien, Formen, Farben und Buchstaben.

Die Buchobjekte gehen weit über die Vorstellung eines traditionellen Buches hinaus. Prall gefüllt sind einige der Bände, scheinen kaum in ihrem Einband bleiben zu wollen oder zu können; gefüllt mit textlichen Fundstücken, aber auch mit Werbungsfragmenten, Textteilen, textilen Details u.v.a.m. Statt der zu erwartenden Seiten aus Papier finden die Betrachtenden Plastik, und nicht nur Geschriebenes, sondern Bilder aus den unterschiedlichsten Kontexten und Materialien.
Neben den Buchobjekten existieren die textilen Arbeiten, in denen mit Nadel und Faden das realisiert wird, was ansonsten mit Bleistift, Tusche oder Farbe auf Papier existiert. Auch sie gehören in den Bereich der Collage. Alte Stoffe werden zur hintergründigen Folie für Fragen nach Weiblichkeit oder Natürlichkeit beispielsweise.
Tapeten bilden naturgemäß eine Wandverkleidung. Möglicherweise verbergen sich hinter dem sichtbaren Muster, so es eines gibt, zahlreiche andere Tapeten aus längst vergangenen Zeiten – unsichtbar. Das Prinzip verweist auf die Arbeitsweise von Corinna Mund: schichtweise. Auf den Tapetenbildern finden wir Relikte aus dem Weltgeschehen, angefangen von einer italienischen Todesanzeige, kombiniert mit dem Bild eines alten Telefons und einem Hummer vor einer dezent gestreiften Tapete im Hintergrund bis hin zu einer Wohnzimmeridylle, Interieur, anwesend sind der Dackel, das Schaukelpferd und eine dekorative Schnitzarbeit aus Holz, ebenfalls vor dem Hintergrund der Wandverkleidung. In einer anderen Arbeit werden wir von einem aus der Werbung ausgeschnittenen Auge beobachtet. Das Auge, das die Betrachtenden anblickt, gehört gleichsam zum Vokabular der Künstlerin. Ironisierend und skurill erscheinen die Ding-Kompositionen vor den geschichtsträchtigen Hintergründen aus Papier.
Überarbeitete Radierungen stellen Landschaften dar, Teile aus landschaftlichen Zusammenhängen werden zum Hinter - Grund der Fundstücke, die sich davor zeigen; Aspekte unserer Zeit, unseres Lebens vor dem Hintergrund, auf der Basis einer traditionellen Landschaft sprechen als Dinge der Gegenwart eine ganz eigene Sprache. Aber in gewisser Weise kann der immer wiederkehrende Verweis auf die Basis – und mag sie Geschichte sein – auch etwas tröstendes haben. Die Stile dieser hintergründigen Radierungen variieren zwischen einer naturalistischen und einer abstrakten Formulierung.
In den Polaroids, den ganz eigenen Fotografien, arbeitet die Künstlerin mit der Unschärfe, mit dem nicht Präzisen eines fotografischen Abbildes und verwendet die Unschärfe und die scheinbar unzureichende Qualität dieses fotografischen Mediums als Teil des künstlerischen Ausdrucks. Worte wie beispielsweise das 'SPQR' werden auseinander genommen und in verschiedenen Fotografien mit jeweils variierendem Kontext festgehalten und so ihrer ursprünglichen Bedeutung entledigt – und doch ist es auch ein Hinweis auf die berühmten vier Buchstaben in der Bedeutung „Senat und Volk von Rom“.
Einem ähnlichen Prinzip unterliegen die fotografischen Aufnahmen mit der Lochbildkamera. Noch weniger beeinflußbar als das Polaroid Bild gibt sich die Aufnahme aus dem wieder aktuellen Verfahren der Lochbildkamera.

Dem Zufälligen stellt die Künstlerin das genau Geplante und Durchdachte gegenüber. Während sie im fotografischen Kontext experimentiert und den fotografischen Prinzipien entgegen arbeitet, gibt sie in den anderen Bereichen ihrer Kunst das genaue Gegenteil. Akribisch wird gesucht, gesammelt und das Material in sinnstiftende Kontexte eingebunden; in den Collagen, ihrer bevorzugten künstlerischen Ausdrucksform, ist alles bewusst gestaltet.
In manchen Arbeiten ist es ein einziges Wort im Kontext der gesamten Darstellung, das den Betrachtenden mit auf die Reise der eigenen Phantasie nimmt. Corinna Mund zeigt Ausschnitte, gewährt Einblicke, macht neugierig mit Hilfe ihrer bemerkenswerten Kombinationen in den Kompositionen.
Ihre Zutaten, die das künstlerische Werk bilden, stammen aus der realen Welt, aus Vergangenem und Gegenwärtigem. Sie erforscht ihr Umfeld, ihre Gegenwart und nimmt in diesem Sinne Vergangenes zu Hilfe, um Ausdrucksformen zu finden, die im Kontrast mit dem Gegenwärtigen existieren, sich aber gegenseitig bedingen und inspirieren. Über das Neue das Alte entdecken und vielleicht sogar verstehen, und über das Alte einen Zugang zu dem Neuen, Zeitgemäßen finden.
Es sind Begriffe wie Schönheit und Künstlichkeit, Kunst und Natur, Menschsein und besonders Frausein und alles zusammenfassend der wache Blick, die Wahr - nehmung, die die Arbeiten Corinna Munds die Betrachtenden lehren.

Dr. Ellen Markgraf, Kunsthistorikerin